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Orell Füssli Gruppe

Orell Füssli baut die digitalen Geschäftsfelder aus

Interview mit Désirée Heutschi, Leiterin Unternehmensentwicklung, zu den Ambitionen von Orell Füssli mit digitalen Nachweisen.

Sie waren in Ihrer Zeit bei Microsoft dafür verantwortlich, Unternehmen bei der digitalen Transformation zu unterstützen. In anderen Rollen waren Sie federführend in der Entwicklung von Innovationsthemen. Wie setzen Sie Ihre Erfahrungen heute in Ihrer Arbeit für Orell Füssli ein?

In der Unternehmensentwicklung identifizieren und entwickeln wir neue und skalierbare Geschäftsfelder, die an das heutige Kerngeschäft in den Bereichen Sicherheit und Bildung angrenzen. Meine Erfahrungen von Microsoft helfen mir, das Orell Füssli Produktportfolio für eine digitale Welt einzuordnen und gezielt zu erweitern. Ein gutes Beispiel dafür sind die digitalen Nachweise.

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Verbindliche digitale Nachweise stellen ein neues, relevantes Zukunftsthema mit grossem internationalen Potential dar.

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Désirée Heutschi
Warum entwickelt gerade Orell Füssli digitale Nachweise und was ist die Ambition dahinter?

Ausgehend von unserem Kerngeschäft mit physischen Identitäts- und Wertdokumenten, werden wir eine Softwarelösung für digitale Nachweise anbieten. Wir schaffen gleichwertige digitale Pendants als Ergänzung zu unseren heutigen Produkten, wie z.B. Identitätskarten oder Führerausweise. Durch die zunehmende Digitalisierung wird das Vertrauen im digitalen Raum immer wichtiger. Wir befähigen Nutzerinnen und Nutzer, Unternehmen und Behörden, digitale Nachweise auszugeben und bequem, sicher und verifizierbar in digitalen und analogen Geschäftsprozessen einzusetzen. So wird die «letzte Meile» der Digitalisierung erschlossen, um vertrauenswürdige Geschäftsprozesse sicher abwickeln zu können. Unsere Ambition ist es, in diesem Bereich ein international führender Anbieter zu werden.

 
Was sind digitale Nachweise und inwiefern erschliessen sie die letzte Meile der Digitalisierung?

Nehmen Sie als Beispiel eine Universität, welche die Immatrikulationsbestätigung sowie Diplome künftig als digitalen Nachweis zur Verfügung stellt. Ein Student kann diese in seinem Smartphone-Wallet speichern und bei Bedarf einzelne Informationen daraus teilen. Er kann beispielsweise direkt beim Online-shopping einen Studentenrabatt anfordern oder seine Diplome im Rekrutierungsprozess digital unterbreiten. Die Echtheit und die Gültigkeit des digitalen Nachweises werden in Echtzeit geprüft, dies dank dem Einsatz von moderner Kryptographie Software.

 
Wo sehen Sie die grössten Vorteile der digitalen Nachweise?

Heute ist es oft nicht möglich, offizielle Nachweise ohne Medienbruch in digitale Prozesse einzubinden, weil sie nur in physischer Form existieren. Dadurch, dass wir die letzte Meile der Digitalisierung schliessen, kann das Ausstellen, Teilen und Prüfen von verbindlichen Nachweisen wesentlich zeit- und kostensparen- der erfolgen als heute. Durch die Vermeidung manueller Schritte und die Überprüfung in Echtzeit entstehen Effizienzgewinne für Herausgeber und Prüfer. Sicherheitslücken durch behelfsmässige Prozesse wie das Einscannen von Dokumenten fallen weg.

 
Wie schätzen Sie das Potential für digitale Nachweise ein? Was will Orell Füssli damit verdienen?

Bisher haben wir über 100 Anwendungsfälle genauer analysiert. Wir sehen ein grosses Potential auf volks- und betriebswirtschaftlicher Ebene. Ausgehend von Marktstudien, schätzen wir das jährliche Umsatzpotential auf über eine Milliarde Franken in der DACH-Region.

Mit dem geplanten Produktportfolio streben wir in den nächsten fünf Jahren einen Umsatz von CHF 30 bis 50 Mio. an, breit abgestützt auf mehrere Produkte und Dienstleistungen im privaten sowie im öffentlichen Sektor. Digitale Nachweise sind ein neues und innovatives Thema.

 
Was ist denn allgemein gesprochen der aktuelle Stand?

In einzelnen Länder ist die Entwicklung schon weiter fortgeschritten. Dort ist zum Bespiel der mobile Führerschein bereits verfügbar. In Zukunft werden digitale Nachweise auch in der Schweiz zum Alltag gehören, das Covid-Zertifikat war der erste landesweit eingesetzte digitale Nachweis. Das Schweizer Parlament berät 2023 über das neue E-ID-Gesetz, ein wichtiger Meilenstein für die Entwicklung und die Verbreitung einer E-ID und digitaler Nachweise.

 
Wie sieht die Software-Lösung von Orell Füssli konkret aus und wie unterscheidet sie sich von anderen Lösungen?

Die Software-Lösung umfasst Komponenten für Herausgeber, Prüfer und Nutzer. Einzigartig ist sie aufgrund des dezentralen Ansatzes. Hoheit und Kontrolle über die Daten obliegen den Nutzern.

Heute wird das Internet von grossen Plattformen und Akteuren dominiert, welche Nutzerdaten zentral halten und für eigene Zwecke verwenden. Im Gegensatz dazu kann der Nutzer mit unserer Lösung entscheiden, mit wem er welche Daten teilen will, und er allein hat Transparenz darüber, welche Daten wann mit wem geteilt worden sind. Zudem werden nur diejenigen Daten geteilt, die für den jeweiligen Anwendungsfall notwendig sind, etwa das Alter beim Alkoholverkauf.

Das zugrundeliegende Konzept heisst Self-Sovereign Identity (SSI). Neben der dezentralen Datenhaltung und der Datensparsamkeit sieht es Privacy by Design vor: Die Privatsphäre des Nutzers und die Datensicherheit werden bei der Produktentwicklung von Anfang an mitgedacht. Das sind Grundsätze, die auch der Bundesrat für die Ausgestaltung einer künftigen staatlichen E-ID festgelegt hat. Einen ähnlichen Weg geht die EU. Damit basiert unsere Lösung auf nationalen und internationalen Standards.

 
Wo steht Orell Füssli konkret bei der Umsetzung?

Mit der Mehrheitsübernahme von Procivis und der strategischen Partnerschaft mit Swisscom sind wir gut aufgestellt, um mit vereinten Kräften am Thema digitale Nachweise zu arbeiten. Die Validierung der Marktnachfrage in verschiedenen Branchen führte zu ersten erfolgreich umgesetzten Pilotprojekten und bestätigte das vermutete Potential.

Als Beispiel sei hier ein Pilotprojekt mit den SBB und der Stadt St. Gallen genannt. SBB-Kunden müssen bei Bestellung eines Partner- Generalabonnements ihren Wohnsitz nachweisen – heute mit einer Wohnsitzbestätigung auf Papier. Künftig kann dies mit einem digitalen Nachweis geschehen, der von der Gemeinde ausgestellt wird, vom Nutzer im Wallet gespeichert und dann im Rahmen der GA-Bestellung digital mit den SBB geteilt werden kann.

Das führt auf allen Seiten zu erheblichen Kosten- und Zeitersparnissen und zu einer höheren Nutzerfreundlichkeit beim Kunden. Aufgrund der positiven Rückmeldungen im Markt wird Orell Füssli in den nächsten fünf Jahren gezielt in die Entwicklung und Vermarktung dieser innovativen Software-Lösungen investieren.

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