Herr Freitag, was waren die Höhepunkte von Procivis im Berichtsjahr?
Wir haben 2024 enorm viel erreicht. Zum einen haben wir unser Produkt “Procivis One” als Komplettlösung für digitale Identitäten und Nachweise auf den Markt gebracht, bereit für den produktiven Einsatz. Zum anderen haben wir erfolgreich Kundenprojekte umgesetzt. Als Beispiele seien hier das US Department of Homeland Security (DHS), das Ministerium für Innere Sicherheit der USA, oder die Stadt Zug genannt.
Ausserdem haben wir unser Wallet, also die elektronische Brieftasche für digitale Identitäten und Nachweise, in die App Stores von Apple und Google gebracht. Eine Testumgebung für potenzielle Kunden wurde ebenfalls eingerichtet. Neben dem Wallet gibt es seit 2024 eine App zur mobilen Verifizierung von Nachweisen, den sogenannten Verifier. Schliesslich haben wir den Quellcode unserer Lösung veröffentlicht, Stichwort “Open Source”.
Warum wurde der Quellcode veröffentlicht?
Die Verordnung eIDAS 2.0, die 2024 von der EU verabschiedet wurde, fordert Open Source ebenso wie der neue Gesetzesentwurf für die staatliche E-ID in der Schweiz. Einerseits wollen Staaten und Behörden unabhängig von den grossen Technologiefirmen sein, andererseits gilt eine Software als vertrauenswürdiger wie auch sicherer, wenn jedermann sie auf “Hintertüren” und mögliche Fehler überprüfen kann.
Ein Anbieter, der im öffentlichen Sektor relevant sein will, muss die Quelldaten transparent machen.
Wie haben Sie die Markteinführung von “Procivis One” erlebt?
Wir haben drei Märkte im Blickfeld. Das ist Europa mit eIDAS 2.0, die Schweiz, also unser Heimatmarkt, und 2024 ist noch die USA mit dem Projekt DHS dazugekommen. Alle drei Märkte sind verschieden. Was sie gemeinsam haben: Sie sind erst im Aufbau und es gibt noch keine etablierten Konkurrenten.
Europa hat 2024 mit der Verabschiedung der eIDAS 2.0 Gesetzgebung den Startschuss abgegeben. Innert zwei Jahren müssen alle Mitgliederländer die neue Verordnung implementieren. Die Zeit abzuwarten und die Zeit für Pilotprojekte ist nun definitiv vorbei.
In den letzten Monaten und Wochen von 2024 konnten wir beobachten, dass der Markt Fahrt aufnimmt. Dass wir viel Zeit investiert haben, um “Procivis One” in Europa bekannt zu machen, trägt nun Früchte.
Wie sieht das Lösungspaket aus, das Procivis entwickelt hat?
Wir haben “Procivis One” mit sechs Eigenschaften ausgestattet, die unser Produkt einzigartig machen.
Erstens ist unsere Lösung hundertprozentig flexibel und unabhängig von zukünftigen technischen Standards (z.B.Protokollen), die sich erst langsam herauskristallisieren.
Somit stellen wir sicher, dass der Kunde eine zukunftsfähige Lösung hat.
Zweitens ist unsere Lösung enorm skalierbar, sodass sie in Ländern mit Millionen von potentiellen Nutzern und Abermillionen von digitalen Nachweisen funktionieren wird.
Drittens garantieren wir einen sicheren und langfristigen Service und Support gemäss den Anforderungen von Behörden und Firmen. Das ist wichtig, weil die E-IDs eine Lebensdauer von 10 bis 20 Jahren haben. Die Kunden können sich darauf verlassen, dass sie mit uns einen starken Partner haben, den es auch in 20 Jahren noch gibt.
Viertens kann unsere Software auf verschiedenen Systemen und an unterschiedlichen Orten installiert werden, wie z. B. in einem Rechenzentrum einer Behörde, in einer Cloud-Umgebung oder auf dem Server einer Firma. Wir haben keine Abhängigkeit zu grossen Anbietern wie Amazon, Google oder Microsoft. Das ist im staatlichen Sektor enorm wichtig.
Fünftens erfüllt “Procivis One” alle Anforderungen des sogenannten “Privacy by Design”. Das bedeutet, dass sich die persönlichen Daten der Nutzer ausschliesslich auf dem Smartphone des Nutzers oder der Nutzerin befinden.
Was passiert, wenn ich mein Smartphone verliere?
Was tun Sie, wenn Sie Ihren Führerschein verlieren? Sie kontaktieren die zuständige Behörde, um einen Ersatz zu bestellen. So funktioniert es auch mit einem mobilen Führerausweis. Wir stellen die Technik zur Verfügung. Wann, wie schnell und wie unkompliziert Sie den Führerschein zurückbekommen, bleibt Sache des Herausgebers, in diesem Fall des Strassenverkehrsamts.
Damit komme ich zum sechsten Merkmal von “Procivis One”. Wir stellen alle Komponenten für digitale Identitäten oder Nachweise zur Verfügung: um sie auszustellen, um sie aufzubewahren sowie um sie zu überprüfen, die sogenannte Verifizierung, z.B. durch eine Bank bei der Kontoeröffnung oder durch einen Autovermieter, der wissen muss, ob Sie einen gültigen Führerschein haben.
Die Summe dieser sechs Eigenschaften macht “Procivis One” einzigartig auf dem Markt und eröffnet unzählige Anwendungsmöglichkeiten.
Welche Kunden sprechen Sie an und wie sieht die Zukunft von “Procivis One” aus?
2025 steht ganz klar “Business to Government” im Mittelpunkt. Denn die staatlichen Akteure stellen die Basisinfrastruktur zur Verfügung, ohne die es keinen privaten Sektor geben wird
Unser Timing ist ideal. Die Regulierung in der EU kommt jetzt, wie wir es erwartet haben. Im Gegensatz zur Schweiz hat in Europa jedes Land seit vielen Jahren ein staatlich anerkanntes System für digitale Identitäten. Die EU-Verordnung eIDAS 2.0 wird die etablierten Systeme nicht einfach ablösen. Sie werden für die nächsten 10 bis 15 Jahre parallel betrieben, um die hohen Investitionen der letzten Jahre zu nutzen. Daher bieten wir den EU-Ländern technische Lösungen an, um ihre bestehenden Systeme anzupassen, damit sie die neuen gesetzlichen Anforderungen erfüllen.
Sobald die Infrastruktur steht, werden wir uns natürlich auch an den privaten Sektor wenden, wie Banken, Telekommunikationsunternehmen und viele andere Industrien – wer auch immer Nachweise ausstellen und prüfen lassen will. Die Dynamik wird im privaten Sektor einsetzen, sobald der öffentliche Sektor die Grundlagen geschaffen hat.